Das BürgerForum Europa
Angela Merkel diskutiert mit Teilnehmern des BürgerForums Europa. Foto: Bernhard Link, Berlin
Gibt es bald die Vereinigten Staaten von Europa? Wird in der gesamten EU eine Grundsicherung für alle Bürger eingeführt? 361 Bürgerinnen und Bürger – in einer Zufallsstichprobe ausgewählt – befürworten diese Ideen. Das Besondere: Die Meinungen wurden nicht in einem schnellen, demoskopischen Interview abgefragt, sondern sind das Ergebnis einer konzentrierten Diskussion. Die Bürger haben ihre unterschiedlichen Ausgangspositionen zwei Monate lang in einem Online-Dialog und zwei Präsenzveranstaltungen überprüft und qualifiziert. Was kann ein solches Dialog-Format leisten? Und wo liegen die Grenzen?
Am 7. Juni ist Europawahl in Deutschland – das Interesse der Wähler ist aber gering: So wollen laut einer Eurobarometer-Erhebung von April 2009 nur 38% der Deutschen zur Wahl gehen. Fast die Hälfte der Deutschen weiß demnach nicht einmal, dass dieses Jahr die Europawahlen stattfinden.
Keine Europamüdigkeit war dagegen bei den 361 Teilnehmern des BürgerForums Europa zu beobachten. Im Gegenteil – über zwei Monate diskutierten sie konzentriert Herausforderungen und Lösungen für Europas Zukunft.
Das BürgerForum Europa ist eine Initiative der Bertelsmann Stiftung und der Heinz Nixdorf Stiftung. Für das große Zukunftsgespräch wählten die Organisatoren eine Verbindung aus Präsenzveranstaltungen und Online-Arbeitsphase. Im Februar 2009 trafen sie alle Teilnehmer in Berlin, um die Diskussionsthemen festzulegen, arbeiteten in der Online-Phase das komplette BürgerProgramm aus, und trafen sich im April 2009 im alten Bundestag in Bonn wieder, um ihre Forderungen mit der Politik zu diskutieren.
Die Stiftungen verfolgen mit diesem Format das Ziel, neue Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung aufzuzeigen. Statt Expertendialoge zu veranstalten, wolle man nun von den Bürgern lernen, ihre Meinungen, Ideen und Impulse kennen lernen, betonte Gunther Thielen, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, auf der Auftaktveranstaltung. „Die Menschen kehren dem politischen Prozess zunehmend den Rücken. Wie kann man diese Menschen zurückholen?“ fragte er in seiner Ansprache. Nicht zuletzt im Hinblick auf die EU-Wahl sei es wichtig, neues politisches Interesse zu vermitteln.
Die 361 Teilnehmer wurden zufällig ausgewählt und kamen aus sehr unterschiedlichen Bereichen der deutschen Gesellschaft. Von der Schülerin bis zur Rentnerin, vom Handwerker bis zum Universitätsprofessor war ein breites Spektrum an Altersstufen, Berufen und auch Meinungen vertreten.
Angela Merkel: „Sie machen da etwas Spannendes mit“
Den Startschuss gab eine Auftaktveranstaltung im Ludwig Erhard Haus in Berlin. Hier sahen sich alle Teilnehmer zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht und legten die wichtigsten Herausforderungen einer gemeinsamen europäischen Zukunft fest. Diese bildeten den Grundstein für die spätere Online-Diskussion.
Der Auftakt stieß auf Interesse an hohen politischen Stellen: Bundeskanzlerin Angela Merkel stattete den Teilnehmern einen Besuch ab und diskutierte am runden Tisch über Deutschlands Rolle in Europa. Der Besuch der Kanzlerin war ein Highlight der Veranstaltung. „Sie machen hier etwas ganz Spannendes mit“, meinte Frau Merkel. „Ich begrüße das natürlich sehr. Wir wollen ja, dass die Menschen zur Europawahl auch etwas über Europa wissen. Und da ist es gut, dass sie nicht nur Lesematerial haben, sondern sich auch selbst etwas erarbeiten.“
Konzentrierte Diskussionen auf der Online-Plattform
In Berlin entwickelten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erste Ansätze ihres BürgerProgramms, formulierten Herausforderungen für die EU-Politik und machten sich Gedanken über mögliche Lösungsansätze. Nach der Auftaktveranstaltung blieben ihnen zwei Monate Zeit, ihr Programm für die zukünftige Gestaltung der EU weiterzuentwickeln. Dafür arbeiten sie in acht Ausschüssen zusammen: Verfassung, Institutionen, eine gemeinsame europäische Identität, Sozialpolitik, der Umgang mit Ressourcen und rechtliche Fragen waren dabei einige der Themen, die auf der Agenda standen.
Die Online-Plattform vom BürgerForum Europa wurde von Zebralog konzipiert und moderiert. Sie basiert auf der Web-Software "discourse-machine 5", die von Binary Objects entwickelt worden ist. Im Gegensatz zu klassischen Forensystemen wurden für das BürgerForum spezielle Workflows modelliert, die die Zusammenarbeit von mehreren hundert Personen an einem gemeinsamen politischen Text erst ermöglichen. BürgerRedakteure sichern den Ausgleich zwischen widerstrebenden Meinungen ab, Abstimmungen und Bewertungen verdichten die vielen Einzelbeiträge zu handfesten Ergebnissen, Online-Moderatoren fördern eine ausgeglichene Beteiligung und garantieren einen transparenten Verlauf. Diese Workflows basieren auf den Erfahrungen mit Online-Dialogen, die Zebralog seit 2001 durchführt.
Die Beteiligung war für Online-Projekte ungewöhnlich hoch: 96% aller Teilnehmer schrieben Kommentare, an den Abstimmungen und Bewertungen nahmen zwischen 80% und 90% der Bürgerinnen und Bürger teil. Über 9800 Kommentare kamen so in der Online-Phase zusammen – 7355 davon entfielen auf die inhaltliche Diskussion zu den Lösungsansätzen.
„Europa leben. Wählen gehen.“
Auf dem BürgerGipfel hatten die Teilnehmer dann zum ersten Mal die Gelegenheit, ihr fertiges Programm der Politik vorzustellen: Fünf Kandidaten für das Europaparlament aus allen Parteien diskutierten über die Lösungsvorschläge der Bürgerinnen und Bürger sowie über weitere Europathemen. Dies fand an einem angemessenen Ort statt: im alten Bundestag in Bonn.
Der BürgerGipfel bedeutet aber noch nicht das Ende des BürgerForums: Denn anschließend sind die Bürgerinnen und Bürger aufgerufen, ihr Programm in die Öffentlichkeit und die Politik zu tragen. Dazu wurde ein Online-Tool entwickelt, welches mit minimalem menschlichen Moderationsaufwand eine deliberative Auseinandersetzung vieler tausend Menschen mit den Forderungen des BürgerProgramms ermöglicht.
Die Teilnehmer des BürgerForums führen dabei als Guides durch das Tool, hin zu einem Wahlaufruf zur Europawahl unter dem Motto „Europa leben. Wählen gehen“.
Was kann das Dialog-Format leisten? Wo sind die Grenzen?
Mit dem BürgerForum Europa wurde das Dialog-Format bereits zum zweiten Mal eingesetzt. Die methodischen Erkenntnisse aus dem Pilotprojekt „BürgerForum Soziale Marktwirtschaft“ aus dem Jahr 2008 waren eine wichtige Grundlage für das aktuelle Projekt. Aktuell lassen sich folgende Errungenschaften und Grenzen kennzeichnen:
Errungenschaften
• Politische Aktivierung!
Die teilnehmenden Personen durchlaufen eine intensive gedankliche Auseinandersetzung mit dem Thema, die vermutlich weit über die Effekte hinausgeht, die bei anderen Formen der politischen Meinungsbildung entstehen (z.B. Medienkonsum, Diskussionen im sozialen Umfeld, Teilnahme an Umfragen, usw.)
• Ausgeglichene Beteiligung!
Personen mit sehr unterschiedlichem Bildungshintergrund können auf einer Online-Plattform so zusammenarbeiten, dass alle Beteiligten weder über- noch unterfordert sind. Dafür ist es notwendig die Arbeitsläufe so zu organisieren, dass sie einerseits asynchron ablaufen (jeder nimmt sich so viel Zeit wie er braucht), gleichzeitig aber auch ausreichend synchron ablaufen (nach 10 Wochen muss ein Ergebnis entstanden sein). Der handwerkliche Erfahrungsschatz in der Online-Moderation ermöglichst es inzwischen, Beteiligungsquoten von über 90% zu erreichen.
• Verwertbare Ergebnisse!
Mehrere hundert Personen können an normativ-geprägten Texten arbeiten und dabei strukturierte, qualifizierte Ergebnisse erarbeiten, die mit klassisch erarbeiteten Parteiprogrammen vergleichbar sind. Ähnliche Anwendungen im Web 2.0 beschränken sich überwiegend auf deskriptive Texte (z.B. Wikipedia), bei denen „wahr“ und „falsch“ unterschieden werden kann. Wenn dagegen Texte mit Bewertungen zu erarbeiten sind, sind die kollektiven Workflows aus dem BürgerForum effektiver.
Aktuelle Grenzen
• Anschlussfähigkeit zur Politik und zur breiten Öffentlichkeit?
Zwar hat das BürgerForum in allen Phasen (Auftakt mit Kanzlerin, Online-Phase mit MdEP, BürgerGipfel mit Spitzenkandidaten, DialogPhase mit Minister- und Parlamentspräsidenten) zum Teil sehr hochrangige Politiker in den Dialog eingebunden. Dennoch bleibt offen, welchen Auswirkung die Teilnahme bei den politischen Entscheidungsträgern hat. Auch die Verbreitung des aufwändig erarbeiteten Erkenntnisse in die breite Öffentlichkeit reicht noch nicht an die Effekte einer überzeugenden Produktwerbekampagne heran.
Ein wichtiger Grund liegt vielleicht in den Traditionen des politischen Alltags: Nur wenige Politiker können sich vorstellen, direkt verwertbare und wertvolle Anregungen durch Bürgerbeteiligung zu erhalten. Gleiches gilt für Journalisten und Medienkonsumenten. Angesichts der normalen Praxis, Bürgerbeteiligungsergebnisse als „Endbericht“ oder in ähnlich „monolithischen Formaten“ zu produzieren, ist dies auch nicht verwunderlich.
In Zukunft wird es erforderlich sein, das Übergabeformat an die Politik und an die Öffentlichkeit von Anfang an im Auge zu haben. Die Ergebnisse sollte man in einer Weise kommunizieren, die den Adressaten auch wirklich interessiert und ihm in seinem eignen Anliegen weiterhilft.
• Massenhafte Beteiligung?
Wer ans Internet denkt, zählt Teilnehmerzahlen nur in Tausendern. Projekte, die „nur“ 350 Personen einbinden haben es schwer ernst genommen zu werden. Der Hinweis, dass diese 350 Personen einen hochwertigen Meinungsbildungsprozess durchlaufen haben, zählt wenig. Es ist also weiterhin die These zu prüfen, ob ein vergleichbarer Meinungsbildungsprozess auch mit hundertausenden von Bürgern zu organisieren ist. Die Erfahrungen mit den Online-Tools in der Dialogphase des BürgerForums weisen in diese Richtung, aber der Weg ist noch zu gehen.
• Exzellente Ergebnisse?
Das Konzept der „kollektiven Intelligenz“ postuliert, dass eine Gesellschaft umso bessere Leistungen erbringen kann, je effektiver sie die Einzelleistungen ihrer Mitglieder zu einem Ganzen zusammenfügt. Wenn dieses Konzept greift, dann wirken die entsprechenden Mechanismen seit Beginn der Menschheit, und die aktuellen Ausprägungen der Regierungssysteme sind nichts anderes als bestimmte Methoden um Einzellleistungen nutzbringend zu kombinieren.
Die Vernetzung der Menschheit mit Hilfe des Internets birgt theoretisch die Möglichkeit diese kollektive Intelligenz um mehrere Größenordnungen zu erhöhen. Es handelt sich hierbei weniger um eine grundsätzliches, als primär um ein methodisches Problem. Wie können Tausende von Menschen konstruktiv an einer Sachfrage arbeiten? Es ist zu erwarten, dass in den nächsten Jahren genau diese Methoden entwickelt werden und dass wir in einigen Jahren nicht nur „gute“ kollektive Ergebnisse erzeugen, sondern dass eine undefinierte Masse von Menschen, mit unterschiedlichen Qualifikationsniveaus, „exzellente“ und überzeugende politische Konzepte entwickeln wird.
3. Jun 2009
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Simone Gerdesmeier
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